- Verkehr: Grenzen der Mobilität
- Verkehr: Grenzen der MobilitätVor rund fünftausend Jahren revolutionierte eine Erfindung die Welt, die sich bis heute zwar als erfolgreicher Dauerläufer erwiesen hat, doch zunehmend Probleme bereitet. Aus drei Holzscheiben haben damals Bewohner des alten Mesopotamien das erste Rad zusammengebaut. Seither erleichtert diese rundum gelungene Erfindung den Transport von Gütern und Menschen. Auch an der Wende zum dritten Jahrtausend basiert der moderne Verkehr nach wie vor auf dieser uralten Scheibe, die sich freilich immer schneller dreht. Dies gilt im wahrsten Sinn des Worts: Die Geschwindigkeiten, mit denen sich Menschen und Güter fortbewegen, nehmen kontinuierlich zu. Zugleich wachsen sowohl die zurückgelegten Entfernungen als auch die Zahl der Reisenden und der transportierten Produkte. Dass dabei die Probleme, die der Verkehr bereitet, nicht weniger werden, liegt nahe. Sie in den Griff zu bekommen, ist weltweit eine der zentralen Zukunftsaufgaben.Das wachsende ProblemDer heutige Verkehr — und das ist in den Industrieländern in erster Linie der Kraftfahrzeugverkehr — beeinflusst unseren Alltag massiv. Wir fahren mit dem Auto zur Arbeit, zum Einkaufen und in den Urlaub — und ärgern uns dabei über den Stau, in dem wir stecken, und den Lärm, der uns belästigt. Weniger bewusst scheint uns zu sein, dass der Verkehr zugleich nicht nur gigantische Energiemengen verschlingt, sondern auch zunehmend Fläche, die eigentlich anderweitig benötigt wird. Auch zur Luftverschmutzung und zum Treibhauseffekt trägt er erheblich bei.Kurz gesagt: Der nach wie vor wachsende Verkehr ist eines der zentralen Umweltprobleme. Um diese zu lösen, genügen technische Konzepte allein längst nicht mehr. Drei der wichtigsten Fragen unserer Zeit lauten daher: Wie viel Verkehr ist überhaupt nötig? Wie viel Verkehr ist gewünscht? Und wie wollen wir in Zukunft diesen Verkehr bewältigen? Erst bei der letzten dieser Fragen spielt auch die Technik eine Rolle, bei den anderen geht es mehr um grundsätzliche Aspekte.Nomaden bei Tieren und MenschenLange vor dem Menschen haben Tiere den Verkehr »erfunden«. Der Storch fliegt von seinem Nest auf einem Schornstein oder Kirchturm meist ein paar hundert Meter oder gar wenige Kilometer zu einer Feuchtwiese, auf der er Frösche und anderes Kleingetier für sich und seinen Nachwuchs sammelt. Er ist sozusagen ein Berufspendler, der täglich zwischen seinem Heim und der Arbeitsstätte hin- und herfliegt. Gleichzeitig ist er auch ein Nomade: Er folgt den Jahreszeiten, um sich Nahrung zu sichern. Werden die Ressourcen auf den spätsommerlichen Wiesen Mitteleuropas knapp, macht er sich Ende August auf den langen Flug ins südliche Afrika. Bis er ankommt, beginnt dort der Frühling — auf den Wiesen hüpfen Frösche.Nicht anders verhalten sich die Nomaden Afrikas, die mit ihren Tierherden immer den besten Weiden hinterherziehen. Selbst im heutigen Europa gibt es noch eine Art »Nomaden«. Sie passen sich in Spanien zum Beispiel den starken Klimagegensätzen der Iberischen Halbinsel an. Wenn im Mai die saftigen Wiesen unter den lichten Steineichenwäldern der Estremadura verdorren, treiben die Hirten ihre Herden zusammen. Bis zu 800 Kilometer lang sind die oft 75 Meter breiten Wanderwege, auf denen sie ihre Tiere nach Norden treiben. Während der sechswöchigen Wanderung ziehen sie praktisch dem Frühling hinterher. Im Sommer erreichen sie schließlich die Hochweiden, die den Herden bis in den Oktober hinein ausreichend Futter bieten. Nach einer langen Rückwanderung über die durch königliches Recht geschützten Wanderwege erreichen die Hirten mit ihren Tieren vor Weihnachten wieder die Estremadura, wo gerade die ersten Regenfälle erneut frisches Grün sprießen lassen.Von der Mobilität zum AutokilometerNomaden ziehen also ihrer wichtigsten Ressource genauso hinterher wie der Weißstorch. Ungewöhnlich ist sie also nicht, diese Trennung zwischen Wohnort und Arbeitsplatz, zwischen Sommer- und Winterdomizil. Transport und Verkehr sind Begriffe, die den Menschen seit langem begleiten. Schon vor Jahrtausenden musste das Heu in die Scheune gebracht werden, musste der Fischer mit einem Boot zu seinen Fangplätzen fahren. Mobilität war in jeder menschlichen Gesellschaft ein Schlüsselbegriff.Heute aber wird Mobilität häufig mit Entfernung gleichgesetzt. Gemeint sind dabei meist Autokilometer. Jede Regierung versucht, die Infrastruktur zu verbessern und baut neue Straßen, Eisenbahnlinien, Schifffahrtswege oder Flughäfen. Je höher das Angebot, umso mehr Kilometer kann jeder Einzelne zurücklegen, umso besser ist die Mobilität — so lautet die Überlegung, die dem Verkehrsminister im Kabinett einen der größten Etats sichert. Je mehr die Infrastruktur eines Landes aber ausgebaut wird, desto weiter rücken die Orte der verschiedenen Aktivitäten auseinander. Während vor 70 Jahren mancher Mann täglich noch sechs Kilometer zu seinem Arbeitsplatz lief und so zweieinhalb Stunden auf Achse war, legt er heute oftmals 60 Autokilometer (und etliche Stauminuten) in der gleichen Zeit zurück. Durch die größere Entfernung hat sich seine Mobilität aber keinesfalls geändert. Denn nach wie vor macht er nichts anderes, als in der gleichen Zeit wie früher zwischen Wohnort und Arbeitsplatz zu pendeln. Allenfalls die Qualität der Fortbewegung hat sich verändert: Anstelle des Regenschirms ist ein festes Dach getreten, die Staumeldungen aus dem Radio ersetzen das Gespräch mit dem Nachbarn, der oft den gleichen Weg hat und ein paar Autolängen weiter hinten zur Arbeit rollt. Und auch wer mit U- und S-Bahn, Bus oder Straßenbahn zur Arbeit fährt, hat nicht seine Mobilität verbessert, sondern nur die zurückgelegte Entfernung vergrößert.Zahlreiche Untersuchungen beweisen es: Seit vielen Generationen liegt der zeitliche Aufwand für zurückgelegte Entfernungen in allen Kulturen bei rund einer Stunde am Tag. Natürlich gibt es große individuelle Abweichungen. Aber der Mittelwert ist so stabil, dass man damit sogar das Wachstum von Städten erklären kann: Die Städte erreichen oft den Durchmesser von einer Stunde, sie wachsen in gleichem Maß wie die Verkehrsgeschwindigkeiten. Sogar die Anzahl der Wege verändert sich statistisch betrachtet kaum. Drei Wege legt der Durchschnittsmensch am Tag zurück — sei es von der Wohnung zum Arbeitsplatz, von der Arbeit zum Einkauf oder vom Ort der Freizeitgestaltung zur Wohnung.Auch die Dauer dieser Wege ist weitgehend konstant, egal ob man einen Dorfbewohner oder einen Großstadtmenschen betrachtet, ob man sich im 17. Jahrhundert oder am Ende des 20. Jahrhunderts umschaut, ob man den Bauern in Kamerun oder den Börsenmakler in Frankfurt am Main miteinander vergleicht: 20 bis 25 Minuten dauert ein solcher Weg im Durchschnitt. Dies bedeutet: Wir erreichen heute in der gleichen Zeit die gleiche Anzahl von Zielen wie früher. Unsere Mobilität blieb demnach weitgehend konstant. Auch die Art der Ziele hat sich nicht gravierend geändert, mit Ausnahme des immer wichtiger werdenden Freizeitbereichs. Rasant angestiegen ist dagegen die Distanz, die wir auf jedem dieser Wege überwinden. Lag vor vier Jahrzehnten die durchschnittliche Entfernung noch bei zwei Kilometern und war daher ein Fußweg, sind es heute 10 bis 15 Kilometer. Diese Strecke lässt sich aber in 20 oder 25 Minuten nur noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Auto zurücklegen. Während der Durchschnittsdeutsche in den 1950er-Jahren noch 2000 bis 2500 Kilometer im Jahr zurücklegte, sind es mittlerweile in derselben Zeitspanne mehr als 12000 Kilometer. Der Luftverkehr mit seinen relativ großen Entfernungen ist dabei noch gar nicht berücksichtigt.Das bedeutet, dass die Verkehrsgeschwindigkeit sich stark vergrößert haben muss. Wir legen viel schneller als früher größere Entfernungen zurück, erreichen damit aber die gleiche Zahl von Zielen wie einst. Das deckt sich mit der subjektiven Erfahrung, die viele Menschen immer wieder äußern: Obwohl sich die Verkehrsmöglichkeiten ständig verbessern, hetzen wir uns immer mehr ab. Hauptgrund für die erhöhte Geschwindigkeit ist in erster Linie der Umstieg von Schusters Rappen beziehungsweise vom Fahrrad auf das Auto.Gab es in den beiden deutschen Staaten 1950 zusammen nicht einmal eine Million Autos, sind es 50 Jahre später in Deutschland mehr als 40 Millionen. Allein durch diesen Umstieg steigen die Geschwindigkeiten, mit denen der Durchschnittsbürger seine Wege zurücklegt. Daneben werden die Fahrzeuge immer schneller; beim Auto und der Eisenbahn scheint die Höchstgeschwindigkeit noch nicht erreicht. Eine Limousine der Oberklasse erreicht heute leicht 250 Kilometer in der Stunde, während vor 50 Jahren die Tachonadel schon bei der Hälfte dieses Tempos den Anschlag erreichte. Die deutsche Bahn führt im Jahr 2000 den ICE-3 ein, der erstmals mit 300 Kilometern in der Stunde nach festem Fahrplan durch die Republik saust.Der Energieverbrauch steigtWenn die Regel des gleich bleibenden Zeitaufwands für den Verkehr auch in Zukunft gültig ist (wofür vieles spricht), dann bedeutet höhere Geschwindigkeit automatisch auch größere Entfernungen und damit einen höheren Energieverbrauch. Noch ein weiterer Zusammenhang treibt den Spritkonsum in die Höhe: Mit wachsendem Tempo steigt der Energieverbrauch exponentiell an. Schlagkräftig bewiesen hat dies ein Überschall-Passagierflugzeug — die Concorde. Sie braucht so viel Energie, dass sie praktisch nicht mehr konkurrenzfähig ist. Für Flugzeuge scheint sich als höchstes Tempo die Schallgeschwindigkeit einzupendeln. Schneller fliegen heute mit Ausnahme der Concorde nur Militärmaschinen, für die jedoch andere Kostenmaßstäbe gelten. Ein vergleichbares Geschwindigkeitslimit scheint es auf dem Wasser zu geben. Dort heben allerdings Tragflügelboote diese Begrenzung zum Teil wieder auf.Folgen für das ÖkosystemAuf das Auto umzusteigen, beschleunigt nicht nur das eigene Tempo des Vorankommens, sondern zugleich auch den Energie- und Flächenverbrauch — und zwar in einem beachtlichen Ausmaß. Beansprucht zum Beispiel der mit einer Geschwindigkeit von fünf Stundenkilometern durch eine Fußgängerzone eilende Passant rund zwei Quadratmeter Fläche, braucht der mit 18 Kilometern in der Stunde dahinflitzende Radfahrer bereits zehn Quadratmeter. Nur unwesentlich schneller ist in der Stadt das Auto mit einem Durchschnittstempo von 25 Stundenkilometern. Für diese geringe Steigerung steigt der Flächenverbrauch allerdings enorm an. Jeder Autofahrer beansprucht mit rund 100 Quadratmetern zehnmal mehr Fläche als ein Radfahrer und sogar fünfzigmal mehr als der Fußgänger.Flächenfresser AutoBusse und Straßenbahnen erreichen mit durchschnittlich 20 Kilometern in der Stunde nur ein geringfügig höheres Tempo als das Rad. Allerdings braucht der mit einem herkömmlichen Linienbus fahrende Mensch mit 15 Quadratmetern deutlich mehr Fläche als der Pedalritter auf seinem Drahtesel, während er im Doppeldeckerbus annähernd den gleichen Platz wie der Radler benötigt. Erheblich günstiger in Sachen Flächenverbrauch ist dagegen die Straßenbahn: Wer mit ihr durch die Stadt fährt, beansprucht nur geringfügig mehr Platz als ein Fußgänger.Wer vom Fahrrad auf das Auto umsteigt und dabei hofft, schneller und bequemer voranzukommen, verzehnfacht zunächst nur seinen Bedarf an Verkehrsfläche. Deshalb ist es kein Wunder, wenn in Deutschland die Flächen für Straßen, Parkplätze, Eisenbahnlinien, Flughäfen und auch Wasserwege bereits fünf Prozent des gesamten Lands überdecken. Das mag auf den ersten Blick wenig erscheinen, doch die Auswirkungen dieses Flächenverbrauchs auf die Landschaft sind enorm.Nicht nur die Städte und Gemeinden werden im Lauf der Jahre immer größer, auch auf dem Land zerschneiden Straßen, Eisenbahntrassen und teils auch Wasserwege zunehmend ganze Gegenden. Der Trend dabei ist eindeutig: Das Netz der Verkehrswege wird immer engmaschiger. Bereits 1987 gab es in der gesamten Bundesrepublik Deutschland gerade noch 296 Gebiete, in denen man zwei Stunden lang in eine Richtung wandern konnte, ohne dabei eine Landstraße überqueren zu müssen.Fehlerhafte BilanzDie Bedeutung solcher straßenfreien Gebiete wird in der Verkehrsflächenbilanz stark unterschätzt. Da fehlen zum einen Areale wie Tankstellen, Werkstätten, Parkplätze auf Privatgrundstücken oder Schrottplätze für Altautos. Zum anderen wird nicht berücksichtigt, dass der Verkehr die angrenzenden Flächen massiv beeinträchtigt und damit auch entwertet. Aus diesem Grund sind die Wohnungsmieten an stark befahrenen Straßen erheblich billiger und streben die meisten Menschen nach einem Häuschen im Grünen fernab der Autobahn. Selbst 50 Meter vom Straßenrand entfernt finden sich noch immer deutlich mehr Schadstoffe im Boden als in unberührten Gebieten. Rechnet man diese belasteten Areale in die Bilanz mit ein, erhöht sich die Verkehrsfläche in Deutschland auf 15 Prozent.Und auch in dieser Zahl werden die Auswirkungen des Verkehrs auf die Natur noch stark unterschätzt, da sie die Arten-Areal-Beziehung unterschlägt. Mit diesem Begriff bezeichnen Biologen einen gut bekannten Zusammenhang: Je größer eine isolierte Region, umso mehr Arten können in ihr leben. Der Umkehrschluss der Arten-Areal-Beziehung aber hat eine immense Bedeutung für den Bau von Straßen, Schienen oder Kanälen: Wird eine Mindestfläche unterschritten, nimmt die Zahl der Arten auf ihr dramatisch ab. Denn jedes Tier benötigt ein bestimmtes Areal, um ausreichend Nahrung sammeln zu können. Zugleich braucht jede Art, die sich sexuell vermehrt, eine bestimmte Zahl von Individuen, um Inzucht und damit eine schleichende Ausrottung zu vermeiden. Um langfristig überhaupt bestehen zu können, benötigt also jede Art ein Vielfaches der Fläche, die ein einzelnes Individuum beansprucht.Für die Brutvögel Mitteleuropas liegt die Minimalgröße für das Überleben bei 80 bis 100 Hektar. Werden zum Beispiel durch ein bisher ungestörtes Auwaldgebiet mit einem Kilometer Länge und zwei Kilometern Breite zwei sich im Zentrum kreuzende Straßen von zehn Metern Breite gebaut, verliert die Natur rein rechnerisch gerade mal zwei von 200 Hektar. Dieser Verlust von einem Prozent scheint minimal, aber er hat dramatische Konsequenzen. Aus dem großen Areal von 200 Hektar entstehen durch den Straßenbau vier deutlich kleinere Flächen von je 49,5 Hektar.Viele Waldvögel können eine freie Straße kaum überqueren, weil sie sich nicht über den hellen Verkehrsweg wagen. Plötzlich sind sie von ihren Artgenossen auf der anderen Seite isoliert. Die kritische Fläche für die Erhaltung der Arten wird daher in allen vier Gebieten unterschritten. Die Folge davon ist: Im Lauf der Jahre werden etliche Spezies aussterben, obwohl doch nur ein Prozent ihres Lebensraums verloren gegangen ist. Aus diesem Grund bekämpfen Naturschützer gerade Verkehrsprojekte durch bisher unberührte Gebiete heftig.Auch großen Tieren vom Rothirsch bis zum Braunbären bereiten die Verkehrswege des Menschen Probleme. Zerschneiden sie doch oft genug traditionelle Routen und verhindern so weite Wanderungen, mit deren Hilfe der Bestand sein Erbgut mischt und frisches Blut in die jeweilige Population bringt. Deshalb bemühen sich Naturschutzorganisationen auch um durchgängige Wanderpfade für Großsäuger. In Slowenien zum Beispiel entstanden 1999 mehrere so genannnte Grünbrücken über Autobahnen, um der Bärenpopulation des Landes Zugang nach Österreich zu verschaffen.Langfristig sind es also vor allem die indirekten Gründe wie das Zerschneiden des Lebensraums, die den Tieren zu schaffen machen. Die direkten Probleme dagegen — etwa die Gefahr, unter die Räder zu kommen — sind für Tiere ein geringeres Problem als für Menschen. So erscheinen in der Statistik der Verkehrsopfer regelmäßig mehr als 150 Vogel- und Säugetierarten Mitteleuropas. Überfahren werden vor allem kleine Raubtiere wie Katzen, Marder, Füchse und Dachse oder blendanfällige Säuger wie Rehe und Hasen. Auch langsame Arten wie Igel, Biber und Fasan oder tief fliegende Vögel wie Amsel, Sperling oder Fink lassen oft ihr Leben auf der Straße.Keine einzige dieser Arten aber ist bisher durch den Straßenverkehr gefährdet, berichtet der Ökologe Josef Reichholf von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Die einzelnen Arten gleichen diesen Blutzoll problemlos aus, indem sie mehr Junge aufziehen. So fallen alljährlich hunderttausend Rehe in Deutschland dem Autoverkehr zum Opfer, rund eine Million werden von Jägern geschossen. Vom Aussterben jedoch ist das Rehwild keineswegs bedroht — im Gegenteil, es wird oft zu einer Plage für den Wald.Technik und StatistikAm Prinzip des Autoverkehrs hat sich in seiner mehr als hundertjährigen Geschichte im Grund nur wenig verändert. Der Verbrennungsmotor eroberte alle Kontinente, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Doch die Verkehrsprobleme in den Industriestaaten zeigen, dass die westlichen Verkehrskonzepte für die Entwicklungsländer wenig geeignet sind, wenn dort mit wachsendem Wohlstand der Verkehr zunehmen wird. Neben dieser mangelnden Zukunftsfähigkeit kritisieren Experten auch das einseitige Sicherheitsdenken, das Autofahrer bevorzugt und Fußgänger benachteiligt.Ungleicher VerkehrDer Flächenverbrauch und die Geschwindigkeit des Verkehrs mögen steigen, seine technischen Grundprinzipien aber bleiben unverändert. Denn am Prinzip des Verbrennungsmotors und der Übertragung der dort gewonnenen Kraft auf die Fahrbahn hat sich in den vergangenen hundert Jahren wenig geändert. Allerdings bewegen die Verbrennungsmotoren heute praktisch alle Autos, Flugzeuge und Schiffe sowie einen erheblichen Prozentsatz der Züge. Weil diese Fahrzeuge aber den Großteil von Transport und Verkehr bewältigen, zeichnet der Verbrennungsmotor in den Industrienationen automatisch für den Löwenanteil des Verkehrs verantwortlich. Das ist auch der Grund, weshalb der Verkehr ein Fünftel der in Deutschland verbrauchten Energie benötigt.Ganz anders sieht die Situation dagegen in den Entwicklungsländern aus. So fahren zum Beispiel allein in Nordrhein-Westfalen mehr Autos als in ganz Afrika. Selbst die kleine Schweiz besitzt mehr Blechvehikel als das riesige China mit mehr als einer Milliarde Einwohnern. Auch Österreich übertrumpft Indien in dieser Hinsicht problemlos. Gemeinsam bringen die beiden Alpenländer also mehr Autos auf die Straße als 40 Prozent der Weltbevölkerung. Allein aus solchen Zahlen wird sehr schnell deutlich, dass die beschriebene Situation nur auf die Industrienationen zutrifft — und dass das Verkehrsmodell Deutschland für Länder wie China oder Togo keine besonders geeignete Zukunftsperspektive darstellt.Von Autos und KöpfenWie ungleich sich die Zahl der Autos pro Kopf zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern verteilt, lässt sich an vielen Beispielen zeigen. So leben die mehr als 120 Millionen Einwohner von Bangladesh auf einer Fläche von nur 144000 Quadratkilometern. Dies bedeutet: Der Bevölkerung, die anderthalb mal so groß ist wie die Deutschlands, steht lediglich die doppelte Fläche Bayerns zur Verfügung. Der Pkw-Bestand dagegen entspricht dem der Stadt Marl in Westfalen. Ganze 4400 Kilometer Eisenbahn und 14000 Kilometer asphaltierter Straßen durchziehen das Land. In den Großstädten verkehren die Busse nur selten und unregelmäßig. Stattdessen aber gibt es allein in der Hauptstadt Dhaka eine viertel Million Rikschas. Mehr als eine Million Bangladesher verdienen sich mit diesem energiesparenden, aber arbeitsintensiven Transportmittel mehr schlecht als recht ihren Lebensunterhalt.Aber auch zwischen den westlichen Industriestaaten bestehen große Unterschiede in Sachen Motorisierung. Die nur 800000 Bewohner des US-Bundesstaats Montana zum Beispiel verteilen sich auf eine Fläche, die geringfügig größer ist als Deutschland. Im statistischen Mittel kommen dort auf 1000 Einwohner 1100 Autos, in Deutschland sind es 508 Pkw je 1000 Einwohner, also weniger als die Hälfte. Ferner zeigt die Statistik, dass in Montana jeder Führerscheininhaber eineinhalb Kraftfahrzeuge zur Verfügung hat und dass jeder Bewohner des Lands im Durchschnitt viermal mehr Treibstoff verbraucht als ein Deutscher.Mangelnde ZukunftsfähigkeitRund 85 Prozent der Weltbevölkerung werden im Jahr 2025 voraussichtlich in Entwicklungsländern leben, die heute nur einen verschwindend geringen Anteil am weltweiten Verkehrsaufkommen haben. Gleichzeitig werden die Menschen in diesen Ländern zunehmend versuchen, den Verkehrsstil der Industrienationen zu übernehmen. Denn warum sollte ein Guatemalteke seinen Arbeitsplatz in einer anderen Entfernung suchen als ein Franzose? Warum sollte ein Bangladesher weniger interessiert daran sein, ein eigenes Auto zu besitzen als ein Einwohner des US-Bundesstaats Montana?Oder gibt es einen triftigen Grund, weshalb ein Zentralafrikaner weniger Spaß am Flugtourismus haben sollte als ein Deutscher? Sobald sie wirtschaftlich dazu in der Lage sind, werden die Entwicklungsländer — geplant oder planlos — versuchen, das Verkehrsmodell der Industrienationen zu übernehmen. In absehbarer Zukunft aber kann sich die Welt eine globale Ausbreitung des westlichen Verkehrsstils unmöglich leisten. Der Aufwand und die Umweltbelastung wären so hoch, dass damit die Lebensgrundlagen aller Menschen zerstört würden. Die logische Konsequenz daraus liegt nahe: Die Industrienationen müssten ihren Verkehrsstil so ändern, dass er ohne zerstörende Effekte auf den gesamten Globus ausgeweitet werden könnte.Selbst wenn die wirtschaftliche Entwicklung nicht allzu gut verläuft, kann sich schnell eine Verkehrslawine nach europäischem Vorbild entwickeln. Dies beweist die russische Exklave Kaliningrad, der Norden des ehemaligen Ostpreußens. Die russische Regierung hat den gesamten »Oblast Kaliningrad« in eine Freihandelszone verwandelt, in der auf eingeführte Produkte keine Zölle mehr bezahlt werden müssen. In einer Region, die seit der kräftigen Reduktion der Roten Armee den wichtigsten Arbeitgeber weitgehend verloren hat, erleichtert das die Wirtschaftslage enorm. So können sich jetzt auch Menschen ein Auto leisten, die noch vor zehn Jahren kaum vom Besitz eines Fahrrads zu träumen wagten. Das Stadtbild des ehemaligen Königsbergs hat sich dementsprechend von einer weitgehend autofreien Zone in ein Verkehrsgewühl mit Staus und Unfällen wie in jeder westlichen Großstadt verwandelt. Jeder dritte Einwohner Kaliningrads besitzt heute ein Auto — in nicht einmal zehn Jahren hat die Region westlichen Verkehrsstandard erreicht.Fehlendes SicherheitsdenkenEin Vergleich mit einem Industriebetrieb zeigt einleuchtend, dass keine Behörde der Welt den Autoverkehr genehmigte, würde er heute neu erfunden. Aufwendige Sicherheitstechnik schützt die Menschen in den Fabrikhallen vor Tod und Verstümmelung durch Unachtsamkeit. Lichtschranken sorgen zum Beispiel dafür, dass sich Maschinen selbst ausschalten, sobald eine Person in einen Gefahrenbereich eindringt. Eine Fabrikhalle etwa, in der die Beschäftigten genau vorgegebene Pfade einhalten müssten, um nicht unvermittelt von einem Maschinenteil erfasst zu werden, dürfte nie gebaut werden. Jede technische Konstruktion muss so beschaffen sein, dass sie Fehler des Menschen toleriert. Aus der Sicht der Volkswirtschaft rechnet sich dieses Vorgehen, auch wenn mancher Unternehmer unter der Last der Vorschriften stöhnen mag.Ganz anders ist die Situation dagegen auf den Straßen der Welt. Das System »Verkehr« baut darauf auf, dass keiner einen Fehler macht. Aber schon der falsche Schritt eines Fußgängers, ein Moment Unaufmerksamkeit eines Autofahrers kann unmittelbar zur Katastrophe führen. Keine Notabschaltung greift ein, wenn ein Autofahrer bei Rot über die Ampel fährt. Kein automatisches Signalhorn ertönt in der Kabine eines Lastkraftwagens, wenn der Fahrer zu schnell durch eine Ortschaft donnert. Stattdessen spielen Kinder auf Gehwegen, neben denen Autos mit hoher Geschwindigkeit fahren — und jeder verlässt sich darauf, dass es schon gut gehen wird.Diese leichtfertige Inkonsequenz bezahlen allein in Deutschland Jahr für Jahr rund 8000 Menschen mit dem Leben, noch viel mehr werden verstümmelt. Fehlverhalten auf den Straßen wird oft brutal bestraft. Entweder mit dem Tod des Schwächeren im Verkehr oder mit Schuldgefühlen, an denen viele zerbrechen, die durch einen Moment der Unachtsamkeit das Leben eines anderen Menschen auf dem Gewissen haben oder dessen Gesundheit ruinierten. Aus diesen Gründen muss der Autoverkehr der Zukunft erheblich toleranter für Fehler werden, als er es bisher ist.Geradezu auffällig zeigen die heutigen Sicherheitsvorschriften, wie falsch unser Technikverständnis beim Auto ist: In aufwendigen Crashtests prüfen Ingenieure die Fahrzeuge auf ihre Sicherheit; der Staat schreibt diese Untersuchungen vor. Allerdings hat der Gesetzgeber dabei vor allem die Fahrzeuginsassen im Blick, wenn er zum Beispiel Tests verlangt, bei denen ein Auto gegen Betonblöcke fährt. Fußgänger und Radler aber bleiben außen vor, wenn man nicht auch die Kollision mit entsprechenden Fußgänger- und Radlerdummies untersucht. Während der Fußgänger dem Fehlverhalten eines Autofahrers hilflos ausgesetzt ist, kann sich dieser selbst schützen, indem er zum Beispiel langsam fährt.Ein weiteres Beispiel für die Einäugigkeit der Verkehrssicherheitspolitik ist die Verkehrsberuhigung. Für viel Geld installieren zahlreiche Gemeinden Betonschwellen, Pflastersteine und Blumenkübel, um Autofahrer zum langsamen Fahren zu animieren. Der Erfolg ist aber meist erheblich geringer als erwartet. Viel sinnvoller wäre es, mit technischen Maßnahmen die Geschwindigkeit der Autos in solchen Gefahrenzonen direkt und vollautomatisch auf ein ungefährliches Maß zu reduzieren. Die heutige moderne Elektronik ermöglicht ein solches Vorgehen wohl zu erheblich geringeren Preisen als die teuren Umbaumaßnahmen. Bisher hat allerdings kein Land auch nur eine Diskussion darüber begonnen, ob eine solche elektronische Beeinflussung der Geschwindigkeit durch automatische Kontrollsysteme von außen sinnvoll wäre.Dipl.-Chem. Dr. Roland KnauerWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Motorisierung von Kraftfahrzeugen: Techniken der ZukunftVerkehr: Elektronische Steuerung, integrierte VerkehrssystemeVerkehr: Neue DenkansätzeAlptraum Auto. Eine hundertjährige Erfindung und ihre Folgen. Begleitbuch zur gleichnamigen Photoausstellung, Beiträge von Peter M. Bode u. a. München 51991.Köberlein, Christian: Kompendium der Verkehrspolitik. München u. a. 1997.Die Mobilität von morgen. Umwelt- und Verkehrsentlastung in den Städten, herausgegeben von Siegfried Behrendt und Rolf Kreibich. Weinheim u. a. 1994.Stadt — Mobilität — Logistik. Perspektiven, Konzepte und Modelle, herausgegeben von Johann Jessen u. a. Basel u. a. 1997.Verkehr, Mobilität, bearbeitet von Agnes Bretting u. a. Hamburg 1991.
Universal-Lexikon. 2012.